Die globalen Kapitalmärkte werden gern als „Casino“ bezeichnet, in dem mit für uns lebenswichtigem Material gezockt wird. Diese Betrachtungsweise ist nicht ganz falsch, aber unvollständig.
Zunächst einmal ist ein Kapitalmarkt einfach ein Ort, an dem Menschen, die Ideen haben mit Menschen, die Geld haben,zusammenkommen können. Das ermöglicht, dass Ideen Wirklichkeit werden, dass Fortschritt entsteht. Und der Handel mit Wertpapieren kann dazu führen, dass die besten Ideen mit viel Kapital ausgestattet werden, und dass schlechten Ideen Kapital entzogen wird. In den letzten Jahrzehnten ist allerdings der Verdacht aufgekommen, dass sich die Kapitalmärkte von diesem eigentlichen Zweck zunehmend entfernen. Der Handel mit den sogenannten Derivaten wird dafür verantwortlich gemacht. Aber auch Derivate sind prinzipiell nichts schlechtes. Im Grunde sind sie eine Art Versicherungspolice. Ein Bauer kann zum Beispiel seine Ernte bereits im Frühjahr zum Festpreis verkaufen und muss erst im Herbst liefern. Über den Sommer hat er den Erlös bereits zur Verfügung, und kann damit seinen Acker pflegen – ohne dasRisiko, dass im Herbst der Preis seiner Früchte ins Bodenlose fällt. Für diese Sicherheit bezahlt er dem Händler ein gewisses Entgelt. Also eigentlich eine ganz gute Sache.
Allerdings ist sie völlig entartet. Das Handelsvolumen mit Derivaten übertrifft inzwischen das globale Sozialprodukt um ein Vielfaches. Papiere werden von Algorithmen bestimmt und gehandelt, oft kommt es dabei auf Millisekunden an. Dies kann zu unkalkulierbaren Preissprüngen, auch bei Rohstoffen oder Agrarprodukten führen, die wirtschaftliche Existenzen in ernste Gefahr bringen.
Wie nun lässt sich der „gute“ vom „schädlichen“ Wertpapierhandel unterscheiden? Die Antwort lautet: Über die Zeit. Realwirtschaftliche Prozesse benötigen immer Zeit. Bis ein Produkt entwickelt, eine Fabrik gebaut, eine Aussaat eingebracht ist - all das dauert Wochen, oft Monate oder Jahre. Möchten wir, dass die Kapitalmärkte die realwirtschaftlichen Prozesse unterstützen, so müssen sie diesen Gegebenheiten folgen.
Es muss also sichergestellt werden, dass Erträge an den Kapitalmärkten nur durch tatsächliche wirtschaftliche Entwicklungen, und nicht durch Algorithmen oder Spekulationsblasen entstehen können. Dazu dürften die Kapitalerträge den Investoren nur dann zufließen, wenn sie aufgrund einer positiven realwirtschaftlichen Entwicklung - also einer Innovation, der erfolgreichen Unternehmensentwicklung oder einem guten Ernteertrag - entstanden sind.
Eine Besteuerungssystematik, die davon abhängig ist, wie lange die Papiere im Besitz des Investors waren, ist ein Mittel dazu. Entsteht ein Ertrag innerhalb von Minuten oder Stunden, so kann er nichts mit einer realwirtschaftlichen Entwicklung zu tun gehabt haben. Wird das Papier jedoch Monate oder Jahre gehalten und es entsteht ein Ertrag, so ist davon auszugehen, das diese Investition die Realwirtschaft unterstützt hat. Erträge, die innerhalb von Stunden entstehen, werden komplett eingezogen, solche, die über Wochen, Monate oder Jahre entstehen, werden mit abnehmender Intensität besteuert. Sehr lange Haltedauern könnten sogar von der Kapitalertragssteuer frei gestellt und nur der Einkommenssteuer unterworfen werden.
Eine Konsequenz des vorgeschlagenen Systems wäre, dass der größte Teil des Derivatenhandels und auch ein erheblicher Teil sonstigen Wertpapierhandels verschwinden würde. Um beide hat sich eine große Industrie mit weltweit sicherlich Millionen von Beschäftigten etabliert. Diese würden ihre Stellen verlieren. Es handelt sich jedoch um intelligente, gut ausgebildete Menschen, die statt in der Finanzwirtschaft auch durchaus gesamtgesellschaftlich nützlich arbeiten könnten, ja sogar dringend gesucht werden. Wirtschafts- und EDV-Fachleute sind von langandauernder Arbeitslosigkeit nicht ernsthaft bedroht. Vielmehr ist die Freisetzung von Fachkräften aus diesem Bereich eine gute Möglichkeit, dem erheblichen Fachkräftemangel zu begegnen.
Übrig bleiben Kapitalmärkte, die der Realwirtschaft mehr nützen als schaden.